Freitag, 26. Januar 2024

Kanchipurams Tempel

Ich sitze gerade auf dem geblümten Laken unseres 4-Personen-Betts, das aus zwei Matratzen besteht und insgesamt wohl 2,80m breit ist. Gestern sind wir in Kanchipuram angekommen, der "Tempelstadt". Irgendwo habe ich gelesen, dass sie nach Varanasi als die zweitheiligste Stadt Indiens gilt. Nach fünf Tagen Pondicherry, den vornehmen Villen des französischen Viertels, die vergleichsweise ruhig und gesetzt waren (trotz Müll, Verfall, räudigen Straßenhunden) sind wir wieder in Indien und zwar zu hundert Prozent. Das Gewusel, die Kleinzelligkeit, die zur Straße offenen Läden. Das Gehupe und die Löcher in den Gehsteigen, so dass man den Blick nicht zu lange von seinen Füßen lassen sollte. Die Straßenstände, in denen man Tee, Kaffee und Frittiertes kaufen kann. Außerdem ist Kanchipuram die Stadt der seidenen Saris und ein Sari-Geschäft reiht sich ans andere. 

Als unser Busfahrer unsere Mitreisenden im Gewimmel der Stadt abgesetzt hatte und wir uns auf holprigen Wegen (vorbei an einem stinkenden Kanal, an Hunderudeln, an mit Müll übersäten Wiesen) unserer Unterkunft, dem "Linga Classic Homestay" näherten, waren wir gleichzeitig entzückt und schockiert. Entzückt von der farbenfrohen Fassade des Hauses, das in Blau, Lila, Rosa, Türkis angemalt ist, von dem knallroten eisernen Gittertor, durch das man zur Treppe kam. Der Busfahrer war ziemlich verschwitzt und entsetzt und auch die zwei holländischen Touristinnen, die wir ermuntert hatten, mit uns zu kommen, weil es hier laut Angaben des Besitzers "5 Betten" geben sollte (mit keinem Wort war erwähnt, dass es sich um "Schlafplätze" handelte). Die versprochene "Küche" entpuppte sich als ein leerer Raum mit einem Spülbecken (nicht einmal eine Steckdose für unseren Wasserkocher gibt es dort). Verwöhnt von unserer "Villa Creole" in Pondicherry hatten wir gehofft, einen Kühlschrank vorzufinden und einen Herd sowie einige Küchenutensilien, mit denen wir unser eigenes Frühstück machen könnten, weil wir außerhalb der Stadt in einem Gebiet mit Einfamilienhäusern wohnen. Es gab außerdem weder einen Stuhl noch einen Tisch, von dem schmalen Balkon geht der Blick auf einen Strommast mit einem Geknäuel von Sromkabeln und auf eine der vermüllten Wiese, auf denen fünf oder sechs Straßenhunde versuchen, irgendetwa Essbares zu finden. Eine Hündin lag da mit ihrem Jungen - leider mussten wir später am Abend sehen, dass das Kleine nicht mehr lebte (wahrscheinlich an "Unterernährung" gestorben, so unser Wirt). 

Alles macht einen ziemlich selbstgeschreinerten Eindruck, die schiefen Schränke, das riesige Bett, sogar die Stange, an denen man in dem fensterlosen Badezimmer seine Handtücher aufhängen soll. An der Wand hängt ein in Plastik eingeschlagenes Bild von einigen Häusern vor einem Alpenhintergrund, in grellen indischen Farben. (Inder lieben die Schweiz, viele Bollywood-Filme spielen teilweise in der Schweiz). In einem der Wandschränke stehen hinter Glas undefinierbare Objekte, als hätte hier jemand alle sinnlosen Geschenke und Mitbringsel untergebracht, die er in seinem Leben bekommen hat. Kurz, die Bleibe entsprach überhaupt nicht unseren (vielleicht etwas überzogenen) Vorstellungen, und die Holländerinnen reisten wortlos wieder ab.

Als wir wenig später (es war schon dunkel) mit einer Riksha in die Stadt und zu unserem ersten Tempel, dem Varadaraja Perumal Tempel, fuhren, waren wir jedoch bald besänftigt oder jedenfalls auf andere Gedanken gebracht. Wir hatten außerdem beschlossen, uns von unserer Unterkunft nicht die Tage verderben zu lassen und das Beste aus der Situation zu machen, u.a. indem wir uns einen Rikshafahrer für Tagesausflüge gönnten.

Das Ritual zu beschreiben, das auf dem riesigen viereckigen Tank (Wasserbecken) der Tempelanlage stattfand, ist schwer. Wir begriffen bald, dass etwas im Gange war. Ein hell erleuchtetes Floß lag auf dem Wasser, Menschen sammelten sich um den Tempel, drückten sich an den Zaun oder saßen auf den steinernen Stufen. Wir gesellten uns zu ihnen. Bald setzte ohrenbetäubende Musik von dem Floß ein, auf dem feierlich gekleidete Figuren von Vishnu und seiner Gefährtin (Saraswathi oder Lakshmi) auf ihren Thronen nebeneinander saßen. Am vorderen Ende des goldenen Floßes standen zwei "Bedienstete", die ihnen Luft zuwedelten, unter dem Podest saßen kleine Brahminenjungen, mit weißen Hüfttüchern und nacktem Oberkörper, mit dem typischen weißen Brahminenfaden gekennzeichnet. Es wimmelte überhaupt von Brahminen, nicht nur auf dem Floß, sondern auch am Rand des riesigen Tanks, und bald sahen wir, dass ihre Aufgabe darin bestand, das Floß von einer Ecke des Beckens zum anderen zu ziehen, mit Hilfe eines Seils. Das geschah teilweise unter Gelächter, und direkt vor uns verlor einer der jüngeren Brahminen das Gleichgewicht und fiel ins Wasser, war aber schnell wieder draußen. Die Musik, eine Kombination eines ohrenbetäubenden Blasinstruments und frenetischen Trommeln, ließ eine hypnotische Stimmung entstehen. In der Mitte des Beckens, auf einer kleineren Pagode, standen einige weitere Brahminen, die die Fahrt des Floßes mit einem etwas dünneren Seil stabilisierten. Polizisten überwachten das Publikum, ein Rettungsboot der Feuerwehr, besetzt mit Männern mit fluoreszierenden Schwimmwesten, folgte dem heiligen Floß auf seinem Weg. Nach drei Runden ebbte die Musik ab und das Floß legte an. Wir hatten keine Ahnung, was passieren würde, wurden aber bald Zeugen davon, wie die kleinen Figuren auf ihren Thronen unter hypnotisierenden Gesängen der Brahminen vom Floß getragen wurden und dann unter einem riesigen Baldachin (begleitet von in die Luft gereckten Handys) in einen dunklen Gang des Tempels getragen wurden. Unsere Vermutung war, dass Vishnu und seine Gefährtin jetzt in ihr Schlafgemach gebracht würden. Der Rest des Rituals ging uns verloren. Wir gingen zurück zum Tempelausgang und baten unseren Rikshafahrer, uns zu einem Restaurant zu bringen, was er auch tat. Wir aßen zu viel, was es dann später schwierig machen sollte, Schaf zu finden. 

Die Nacht war eh ein Alptraum. P und ich waren beide von Mücken geplagt, und ich stand in der Mitte der Nacht auf, um das Mückenmittel hervorzukramen. In der Früh um sechs, als der Wecker klingelte, weil wir uns für unsere neue Tempeltour bereit machen wollten, waren wir todmüde und völlig genervt. P hatte in der Nacht sogar gegoogelt, um zu sehen, ob es irgendwo eine bessere Unterkunft gab, aber alles schien ausgebucht. Inzwischen haben wir uns mit "Linga Homestay" abgefunden. Der Vorteil ist, dass wir hier wirklich auf Abstand gehen können. Nach einem Nachmittag, verbracht mit Lesen, Schlafen und dem Schreiben von Tagebuch und Blog sind wir jetzt wieder bereit für ein neues Tempel-Abenteuer. 

Ich habe heute die drei karierten Lunghis, die ich in Kulitthalai gekauft habe, zu einem Schneider gebracht (mit der Hilfe unseres Rikshafahrers, dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe), damit mir der nach einem Vorbild Fischerhosen näht. Das erste Exemplar ist schon fertig, ich sitze damit auf dem Bett. 

Wir durften auch der Familie des Rikshafahrers einen Besuch abstatten, lernten die sechs Katzen kennen, die (wie er uns stolz mitteilte) alle sechs einen Namen haben und in der Nacht hart arbeiten. Sein Handy war, wie wir beim gemeinsamen Mittagessen in einem vegetarischen Restaurant sehen konnten, voll mit Bildern von den Katzen (und anderen Touristen, die er durch die Stadt kutschiert hat).    

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