Samstag, 30. Dezember 2023

Es geht los

Wie jedesmal ist es nicht leicht, mit dem Bloggen anzufangen. 

Sitze in unserer "Queen's Suite" im "Broad Lands Lodge" in Chennai. Der Ventilator an der Decke dreht sich, P nimmt eine Bucket Shower in unserem geräumigen Badezimmer, auf dem Sessel liegt eine trächtige indische Katze und ruht sich aus. Sie kommt durchs geöffnete Fenster herein, und es macht nicht viel Sinn, ihr den Weg hinaus zu zeigen. In der Nacht hat sie ein wenig für Aufregung gesorgt, weil sie sich in einer der Papiertüten verfing, die auf dem Boden lagen, und dann verschreckt durchs Zimmer sprang. Ich stand auf, um sie zu befreien, da hatte sie den Henkel schon abgestreift und sprang durchs Fenster hinaus, nur um wenig später wieder hereinzukommen. 

Unsere erste Nacht hier in Chennai. Wie immer fühlt sich der erste Tag an wie eine Ewigkeit. P saß mit anderen Mitreisenden über dreißig Stunden in Delhi fest, und ich musste erstmal ohne Gepäck auskommen, weil mein Koffer in Delhi hängengeblieben war. Mein vorbestelltes Taxi war schon weg, als ich den Papierkram am Desk von Air India erledigt hatte, und ich lief erstmal ziemlich verloren vor dem Flugplatzgebäude in der Wärme herum. In einem Parkhaus fand ich eine Uber-Vermittlung, und schnell war ein Fahrer da, der mich zu unserem Hotel brachte. 

Indien ist auch diesmal zuerst ein Schock. Der Dreck, das Chaos, der Verkehr, der Verfall. Ich hatte auf dem Weg das Buch "The Age of Kali" von William Dalrymple gelesen, das ziemlich anschaulich den inneren und äußeren Verfall beschreibt, den der Autor vor fast dreißig Jahren vielerorts in Indien beobachten konnte, und was ich bei meiner Ankunft sah, passte ziemlich gut zu seinen Beschreibungen. Vielleicht war ich aber auch nur bereits in diesem Wahrnehmungsmodus. Der Dreck, der Müll, die vielen verfallenden und vernachlässigten Häuser, die schmutzigen Fassaden, aufgebrochenen Bürgersteige, der Eindruck von Resignation und Passivität bei den Menschen, die sich durch dieses Chaos bewegen, schieben, schlängeln, zu Fuß, auf Motorrädern, in Rikshas und überfüllten Bussen und auch immer mehr in klimatisierten SUVS mit verdunkelten Scheiben, all das überwältigte mich, im Zusammenhang mit der feuchten Wärme.

Das Broadlands Travel Lodge ist eine alternde Schönheit. Früher war hier einmal die türkische Botschaft untergebracht, seit den 70er Jahren ist es ein vor allem bei westlichen Touristen beliebtes Hotel. Die erste Reaktion auch hier Schock. Alles so schmutzig, heruntergekommen, verwittert, zerfallend. Der Eindruck der Verwahrlosung. Dann nimmt man plötzlich die vielen überraschenden Winkel und Treppchen wahr, die orientalischen Fensternischen und filigranen Details, die farbigen Fensterrosetten, den schwarzweiß-gefliesten Boden auf einem der bepflanzten und begrünten Innenhöfe. Von den über Stein-und Holztreppen erreichbaren Dachterrassen hat man einen Blick über die Dächer der Stadt. 

Kein Zimmer gleicht dem anderen. Ein gemütlicher Sammelplatz bei der Rezeption, mit einer gepolsterten Bank und Wifi-Empfang. Von der benachbarten Moschee hört man mehrmals am Tag den Ruf des Muezzins, auf den Straßen mischen sich Muslime und Hindus, es gibt einen Burka-Laden und einen Hindutempel, zahlreiche Straßenhunde und einen nicht abreißenden Strom von hupenden Rikshas und Motorrädern. Ein kleiner Nachbarjunge möchte mit jeder von uns "High Five" machen, die an seinem Hauseingang vorüber geht. Gegenüber vom Hotel kann man an einem kleinen Karren seine Kleider bügeln lassen. Kühe gehen mit wiegendem Gang gemächlich durch die Straßen, einige sind in Begleitung ihrer kleinen Kälber. Bei Tag ist die Hitze schwer zu ertragen. Am Abend kühlt es ab. 

Da mein Gepäck nicht mitgekommen war, musste ich erstmal Kleider kaufen, das gab meinem Hiersein ein Ziel, eine RIchtung. Inzwischen waren wir auch schon ein paar Mal in einem einfachen indischen Lokal essen ("Hotel" heißt das), wo man gefüllten Reispfannkuchen (Masala Dosa) und andere typische indische Teiggerichte mit Soße (Sambal) und Chutney bekommt. Wir widmen uns außerdem immer noch dem Ankommen und versuchen, den auf der Reise verlorenen Schlaf aufzuholen. Viele von uns sind müde und erschöpft. 

Heute war fast die ganze Gruppe am Marina Beach, wo eine Art Dauerjahrmarkt stattfindet und an den Abend die Inder in großen Mengen zur Abkühlung und Erheiterung ins Wasser gehen (wegen der hohen Wellen nur bis zu den Waden). Ich habe meine erste grüne Kokosnuss gekauft und mithilfe des mitgebrachten Metallstrohhalms ausgeschlürft. Ich habe eine grünliche Zuckerrohrlimonade getrunken, frisch gepresst in einer speziellen, von einem Generator betriebenen, Maschine. Ich habe bei einer kleinen verhutzelten Inderin kleine, mit Zwiebeln gefüllte, Samosas aus Zeitungspapier gekauft (mein Abendessen). 

Zwei Teilnehmerinnen aus unserer Gruppe haben sich für einen Euro von einem Papagei eine Wahrsagung geholt. Er wird diesem Zweck aus seinem kleinen Holzkäfig befreit und pickt von einem Stapel so lange Karten ab, bis er zufrieden ist. Die letzte, die er aufwirft, enthält dann die Weissagung, eine Kombination aus Bild und Text, in beiden Fällen heute erbaulich und sehr zutreffend. Ein paar Meter weiter saß ein anderer Wahrsager, in seinem kleinen Holzkäfig war aber kein Papagei, sondern eine riesige weiße Ratte. 

Am Meer tummelten sich wie erwartet die Menschenmengen. Allmählich wurde es dunkel. Grellrosa leuchtete die  Zuckerwatte, die junge Männer an einem Stock durch Menschenansammlung trugen. Man konnte allen möglichen Krempel und alles Mögliche zu essen kaufen, zum Beispiel eine zu einer Spirale auf einen Spieß gedrehte Kartoffel, die erst frittiert und dann mit Salz und Chili bestreut wurde (je nach Wunsch kam auch auch noch Majonnaise drauf ). Ich wartete lange auf so eine Spiralen-Kartoffel, weil sie in meinen Augen lecker aussah, gab aber auf, als ich einsah, dass die Frau, die vor mir war, "Spring Potatoes" für die ganze Großfamilie bestellt hatte, und meine Gruppe allmählich im Gedränge verschwand. 

Der Ventilator dreht sich immer noch. P schläft schon. Es ist jetzt kurz nach neun, und ich bin auch schon wieder müde. Es wartet mein Bett mit den gemusterten Laken, von denen eines als Zudecke dient. Die Katze hat sich in "ihrem" Sessel zusammengerollt. Wir hatten heute unsere erste trotzige Auseinandersetzung mit einem Riksha-Chauffeur, der nicht aufhörte, uns mit lauter und penetranter Stimme den Besuch verschiedener Sehenswürdigkeiten anzupreisen, obwohl wir wiederholten, dass wir zu unserem Hotel wollten. Als ich sagte, der vorige Rikshafahrer habe für die gleiche Strecke 200 Rupies verlangt, bezeichnete er mich als "Lügnerin". Es war aber die reine Wahrheit. 

Für den morgigen Silvesterabend haben wir schon Plätze in einem Restaurant bestellt (mit Buffet). Wir werden uns ein Ritual ausdenken, nach dem Essen auf der Dachterrasse tanzen und dann das Chennaier Feuerwerk betrachten. 

Indisches Frühstück

Nach einigen Tagen in unserem Villaviertel in Kanchipuram haben wir ein Straßenrestaurant gefunden, bei dem wir inzwischen ein paar Mal gege...